News

»Für eine Publikationskultur der Vielen«

»Für eine Publikationskultur der Vielen«

 

    Joachim Höper
   Geschäftsleitung 
   wbv Publikation
   (wbv media)

 

 

 

 

 

15.06.2020

 

Stellen Sie Ihr Unternehmen kurz vor.

wbv Publikation ist die Verlagsmarke und damit einer von drei Geschäftsbereichen der wbv Media GmbH & Co. KG. Das unabhängige und eigentümergeführte Familienunternehmen mit Sitz in Bielefeld hat circa 65 Mitarbeitende. Gegründet wurde es bereits 1864. Im Jahr 2018 fand die Umfirmierung von W. Bertelsmann Verlag zu wbv Media statt. Ebenfalls seit 2018 sind wir Mitgesellschafter der Verlagskooperation utb. Hier publizieren wir unser Lehrbuchprogramm und vertreiben über die scholars-e-library unser Gesamtprogramm an Bibliotheken. Seit Beginn 2020 kooperieren wir mit dem ATHENA-Verlag aus Oberhausen. Thematisch publizieren wir ein vielfältiges Programm aus den Bereichen Geistes- & Sozialwissenschaften, Bildung & Beruf sowie Verwaltung & Recht. Ein engagiertes Team von 15 Mitarbeitenden bei wbv Publikation bringt circa 100 Novitäten unserer Autor_innen, Herausgeber_innen und Institutionen pro Jahr an die Öffentlichkeit. 

Seit wann praktiziert wbv Publikation Open Access?

Die Anfänge liegen ungefähr im Jahr 2008. Wir gehörten zu den ersten Verlagen, die sehr freigiebig Open-Access -Inhalte kostenfrei an das DIPF für das Repositorium peDOCS zur Verfügung gestellt haben. Ab 2010 haben wir uns im Verlag intensiver mit Open Access auseinandergesetzt und uns gefragt, was das für die klassischen Geschäftsmodelle bedeutet und wie wir unser Unternehmensmotto „Wir machen Inhalte sichtbar“ immer wieder neu durchbuchstabieren, damit unsere Autor_innen, Herausgeber_innen und institutionellen Partner von neuen Verbreitungswegen profitieren. Seit 2012 kooperieren wir mit gesis und dem dortigen Social Science Open Access Repository (SSOAR). In einem Projekt haben wir einen eigenen OAI-PMH-Server (Open Archives Initiative Protocol for Metadata Havesting) aufgesetzt.

Seit 2012 haben wir mit wbv-open-access.de unsere eigene OA-Verlagsplattform. In den Jahren 2017 bis 2019 haben wir unterschiedliche Services von Knowledge Unlatched (KU) zur internationalen Verbreitung von Metadaten, Recherchierbarkeit unserer Leistungsbausteine und im letzten Jahr erstmals disziplinorientiertes Crowdfunding für unsere Frontlist in den Programmen Berufs- und Wirtschaftspädagogik und Erwachsenenbildung ausprobiert. Mit der sogenannten wbvOpenLibrary gehen wir nun in die zweite Runde für die Frontlist 2021. Seit diesem Frühjahr kooperieren wir darüber hinaus über KU mit Ubiquity Press, mit deren Unterstützung wir eine zuvor ins Open Access überführte Zeitschrift (Hessische Blätter für Volksbildung) international verbreiten.

Seit Herbst 2019 engagieren wir uns bei ENABLE!, durch Austausch, inhaltliche Beiträge und Support für den Start der Community im Mai 2020.

Mit welcher Motivation haben Sie begonnen im Open Access zu publizieren?

Die Anfänge der verlegerischen Tätigkeit bei wbv Publikation lagen darin, publizistische Dienstleistungen für namhafte Institutionen im Bildungsbereich zu erbringen. Ab Anfang der 2000er Jahre veröffentlichten wir auch vermehrt verlagseigene Titel und Reihen im Programm. Die „Dienstleistungsorientierung“ für Auftraggeber_innen und Herausgeber_innen gehört quasi zur Gründungs-DNA von wbv Media. Hinzu kommt, dass wir innerhalb der Erziehungswissenschaften Programme einiger kleinerer Sektionen bedienen, die im Kern eher kleine Zielgruppen darstellen. So haben wir immer schon Titel im Programm, die vom Auftraggeber (annähernd vollständig) finanziert werden, weil es einen öffentlichen Auftrag dazu gibt; dazu kommen Titel, die sich allein durch Verkäufe am Markt tragen müssen, und Mischfinanzierungen in allen Zwischenformen. Deshalb war die Umstellung der Geschäftsmodelle hin zu Open Access für wbv Publikation gedanklich zunächst kein großer Schritt. Die Sicherstellung der inhaltlichen Qualität durch Herausgeberschaften oder die Organisation von Review-Verfahren (Peers, Institutionen) und die formale interne Qualitätssicherung hat unsere Arbeit von Anfang an ausgemacht. Wir organisieren die Verbreitung, Sichtbarkeit und Nutzung der uns anvertrauten Inhalte. Es kommen ständig neue Kanäle, Portale und Nutzungsformen hinzu, die wir prüfen und mit in unser Angebot aufnehmen.

Wir haben in den Jahren 2012 bis 2018 allerdings auch schmerzlich erfahren müssen, dass sich die öffentlich geführte Debatte zu Open Access im Kern um die Geschäftsgebaren eines Anbieter-Oligopols der STM-Disziplinen und um die fortgeführte Debatte um Subskriptionspreise von Journalen drehte. Wir hatten seit 2010 angefangen, unsere Backlist nach einigen Jahren konsequent in den grünen Open Access zu überführen, in der Hoffnung, dass sich die Rahmenbedingungen für den goldenen Weg bald entwickeln würden. Das ist in der Zeit aber nicht passiert. Wir haben also freiwillig auf Backlistumsätze verzichtet, interessante Open-Access-Gold-Angebote erstellt, unglaublich viel an Beratungsarbeit zu OA bei Autor_innen und Herausgeber_innen geleistet, aber letztlich wenige OA-Gold-Angebote realisieren können. Trotz vieler aus dem Boden wachsender OA-Policies gab es schlicht noch keine Open-Access-Monografien-Fonds.

Ein Hoffnungsschimmer waren für uns die Open Access-Tage 2017 in Dresden, in denen das Thema Open Access für Monografien in den Geistes- und Sozialwissenschaften erstmals einen sichtbaren Platz in der Agenda gefunden hatte. Das hat sich in den folgenden Jahren zum Glück fortgesetzt. Es folgten Einladungen u.a. zu Roundtable-Gesprächen des Open-Access-Büros Berlin seit dem Jahr 2018 und darüber hinaus. Und es entstand der Eindruck: Jetzt ist endlich die Zeit gekommen, um gemeinsam auf Augenhöhe über Open Access für Monografien in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu sprechen. Im September 2019 schlossen wir uns ENABLE! an, um genau diese Entwicklung weiter mit voranzutreiben.

Schon früh haben wir angefangen, die digitale Publikation und deren Verbreitung in den Mittelpunkt unserer Prozesse zu stellen. In der Verlagstätigkeit dreht sich aber nicht alles nur um Open Access. Parallel dazu mussten wir Ressourcen bereitstellen für leistungsstarke Infrastruktur und Vertriebspower für die Vermarktung kostenpflichtiger digitaler Verlagsinhalte. Zwei Stoßrichtungen, deren Geschäftsmodelle sich diametral gegenüberstehen. All das fand statt in einem Umfeld, das geprägt war durch eine weitere Ausweitung der Oligopol-Verlage (DEAL-Verhandlungen) und einem vermehrten In-Sourcing und dem Aufbau von verlags- oder verlagsähnlichen Tätigkeiten bei größeren Institutionen und im Bibliotheksbereich. Keine einfache Aufgabe für einen mittelständischen Player. Wir haben uns sehr früh für strategische Kooperationen für einzelne Teilaufgaben des Publikationsprozesses in den Leistungsbereichen Technologie, Verbreitung und Vertrieb entschieden. So können wir mit der Summe von eigener und der Stärke von leistungsstarken und innovativen Partnern attraktiv sein und gleichzeitig können wir in unserer Unternehmensgröße einen Vorteil in der Nähe und Begleitung unserer geschätzten Autor_innen und Herausgeber_innen ausleben.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Open Access-Publishing gemacht?

Unsere Sicht auf Open Access orientiert sich an der Programmplanung, an dem was wir für die Transformation hin zu Open Access in den verschiedenen Disziplinen tun können, für die wir unsere Programme planen. Wir wollen nicht nur einzelne Titel im Open Access publizieren, sondern wir suchen verlässliche und planbare Strukturen, um Programmplanung mit einem Zeithorizont von drei oder sogar mehr Jahren anzugehen. Publikationsfonds an Bibliotheken wiederum vertreten die Perspektive, Finanzierungsmittel für die Angehörigen ihrer Institutionen bereitzustellen. Hier kollidiert langfristige Planung im Verlag - orientiert an der Community einer wissenschaftlichen Disziplin - mit der kleinteiligen, titelbezogenen Abrechnung für einzelne Autor_innen je nach Standort ihrer Institutionen und deren Rahmenbedingungen für OA. Wenn nun aber Herausgeberschaften über mehrere Uni-Standorte verteilt sind und die Autor_innen noch von weiteren Unis, Forschungseinrichtungen oder gar aus der Praxis kommen, dann kommt man schnell an die Grenzen des finanziell Planbaren.

Weiterhin mussten wir lernen, dass die Open Access-Beauftragten die Entscheidung, sich z.B. an Crowdfunding-Modellen zu beteiligen, an die Erwerbungsleitung im Haus weitergereicht haben. Wenn zwischen diesen beiden Stellen dann kein weiterer Austausch über die strategische Bedeutung dieser innovativen disziplinorientierten Finanzierung von Open Access stattfindet, dann steuern wir auf einen signifikanten Fehler im System zu. Es muss gelingen, die Perspektive der einzelnen OA-Policies vor Ort zu weiten: Es darf nicht nur heißen „Was kann ich an meinem Standort tun?“, sondern auch „Worin sollte meine Einrichtung für die verschiedenen Disziplinen investieren?“

Unabhängig davon haben wir auch viele positive Erfahrungen während des gesamten Prozesses hin zu Open Access und einer Neuorganisation in unserer disziplinspezifischen Publikationswelt gemacht. Sowohl in der Gemeinschaft derer, die sich interdisziplinär für Open Access einsetzen, als auch in der Offenheit vieler unserer Autor_innen und Herausgeberinnen, die wir von den neuen Möglichkeiten oft begeistern konnten.

Sie engagieren sich bei ENABLE! Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten nächsten Schritte?

Eine offene Frage ist: Wie können einzelne Aufgabenstellungen gemeinsam angegangen werden, so dass das Feld insgesamt bearbeitet wird? Es gilt, sich über Rollen und Aufgaben im Gesamtsystem des Open-Access-Publizierens auszutauschen und zu verständigen. Wer macht was, wer ist worin besonders gut? Dass dabei Bibliotheken, Hochschulverlage, inhabergeführte Verlage und Dienstleister jeweils eigene Perspektiven haben, ist selbstverständlich und stellt letztlich einen Reichtum in einer Kultur der Vielen dar.

Weiterhin braucht es ein Verständnis für Leistungen im Publikationsprozess, die erbracht werden müssen und die transparent und nachvollziehbar beschrieben werden. Das gilt für kommerzielle Verlage genauso wie für Hochschulverlage. Denn am Ende ist es wichtig, nicht nur über Preise, sondern auch über die dahinterstehenden Leistungen zu sprechen. Dass diese je nach Größe der Disziplinen und Publikationskultur durchaus unterschiedlich sein dürfen, gehört dazu. Und es ist wichtig, die Interessen von Autor_innen in ihren unterschiedlichen Disziplinen in den Austausch zu integrieren.

Welche Bedeutung hat die Community aus Wissenschaft, Verlagen, Bibliotheken und Intermediären dabei?

Mit der Idee zu ENABLE! haben die Kolleg_innen vom NOAK und transcript eine tolle Initiative auf den Weg gebracht, Open Access gemeinschaftlich und partnerschaftlich in den SSH anzugehen. Das darf hier anerkennend erwähnt werden. Nun geht es weiter: Eine Community lebt davon, dass es Personen gibt, die die Themen weiter vorantreiben, die auf Augenhöhe diskutieren, Erfahrungen einbringen, sich kümmern und die Rahmenbedingungen für nachhaltige Co-Publishing-Prozesse beschreiben, so dass sie für Autor_innen in den SSH-Disziplinen und für die Finanziers überzeugend und klar vor Augen stehen.  Von einer Kultur der Vielen im Publikationssystem profitieren am Ende Autor_innen und Herausgeber_innen, weil sie eine echte Auswahl haben, für ihre eigenen Interessen und ihre wissenschaftliche Karriere den jeweils besten und auf die Disziplin bezogenen passenden Publikationspartner zu finden. 

Weitere Informationen: https://www.wbv-open-access.de